Kunst und Handwerk, Dominik Kälin – Teil 4

Arbeitsalltag, Besuch bei Maskenfabrikantin, Maskenhistorie

Wieder bei den Kälins in der Maskenwerkstatt.

Wir fügen dem Kaffee noch einen Schuss Schnaps hinzu. Beide Hände umfassen die Schale. Der Blick auf den Kaffee gerichtet, schlürfen wir das heisse Getränk in kleinen Schlücken hinunter. Der Schnaps wärmt angenehm. Fast zeitgleich stellen wir die Schalen auf dem Tisch ab. Aloisia  reicht mir ein Bouquet, eine süsse Spezialität aus Einsiedeln.
„Sehr lecker. Vielen Dank.“
„Ich habe Ari bereits gesagt, was du für ein Glück hast, dass sie ausgerechnet heute bei uns in der Werkstatt vorbei schaut. Jetzt wo wir so viel Arbeit haben.“
Dominik nimmt einen Schluck Kaffee und schaut mich über den Schalenrand an.
„Was möchtest du also gerne alles erfahren? Du hast bestimmt viele Fragen.“
„Das ist wahr.“ Ich lächle zurückhaltend. „Helena Oechslin (1822-1909) hat mir bereits erzählt, dass du bereits als Junge viel bei ihr und Adelrich Oechslin (1823-1872) gearbeitet hast. Adelrich Oechslin hat anscheinend auch Wachsmasken hergestellt. Wie kam es zu dieser Übernahme?“
„Von Adelrich habe ich einige Maskenformen übernommen. Adelrich war in erster Linie ein Künstler, ein Wachsbossierer genau genommen. Er hat Objekte aus Wachs hergestellt. Und nur kurz vor der Fasnacht stellte er Masken her. Adelrich erzählte mir dann, dass er von grossen Maskenfabriken in Paris und Lyon gehört habe. Dort wird eine andere Art von Masken hergestellt, die weniger aufwendig und leichter sind und in grossen Mengen hergestellt werden können.
1869 ist dann Adelrich gestorben und seine Frau und ich haben uns überlegt, wie wir damit weitermachen wollen. Helena, seine Frau, hat immer mitgearbeitet. Sie hat mir schliesslich den Vorschlag gemacht nach Paris zu reisen und mich dort weiterbilden zu lassen. Helena hat mich für diese Reise nach Paris auch finanziell unterstützt. Das bin ich ihr bis heute sehr dankbar.“
„Wie hat Adelrich von diesen Maskenfabriken erfahren?“
„Die Wachsbossierer von Einsiedeln haben sich in verschiedenen Städten niedergelassen. Wie in Wien, Lyon und Paris. Mathias Augustin Kuriger (1787-1811) bossierte zum Beispiel den am 20. März 1811 geborenen Sohn von Napoleon I.“
Aloisia ergänzt: „Die Wachsbossierer von Einsiedeln waren wirklich sehr bekannt. Ich denke, etwas über Adelrich Oechslin solltest du in ihren Unterlagen schon finden.“
Und Dominik fügt hinzu: „Adelrich war eben Künstler. Wir nur irgendwelche Handwerker. Umso wichtiger, dass du uns besucht. Normalerweise interessiert man sich nicht besonders für unsere Arbeit. Hauptsache, die Masken werden hergestellt.“
„Und zwar alle auf den gleichen Tag“, ergänze ich schmunzelnd.
Wir lachen und Aloisia schenkt uns einen Kaffee nach. Mit Schnaps natürlich. Eine gemütliche Stimmung unter Gleichgesinnten.
„Eben gestern,“ erinnert sich Aloisia, „ging ich in die Bäckerei, da sah ich unsere Masken im Schaufenster. Ich sagte dem Franz, dem Bäcker: ‚Diese Masken hast du noch nicht bezahlt. Ich kann ja bei dir für 50 Franken einkaufen, dann sind wir quitt.‘ Ich dachte, das sei ein netter Vorschlag, doch Franz meinte nur: ‚Ach, tu nicht so, das ist beste Werbung für dich.‘ Da hab ich ihm geantwortet: ‚Gut, dann mache ich mit deinem Brot auch Werbung, biete es meinen Kunden an und bezahle nichts dafür. Einverstanden?’ Franz bekam einen roten Kopf und stöhnte auf: ‚Wenn du unbedingt willst, dann gebe ich dir halt die 50 Franken!’“
Dominik brustet los: „Das kann ich mir gut vorstellen. Der hatte keine Ahnung, mit wem er sich da einlässt.“
Aloisia nimmt einen kräftigen Schluck Kaffeeschnaps. Lehnt sich zufrieden auf ihrem Stuhl zurück.
„Hier, die 50 Franken.“ Sie wirft die Note lässig auf den Tisch.
„Diese Geschichten kenne ich nur allzu gut. In den letzten hundert Jahren hat sich also nichts geändert.“ Ein Biss ins Bouquet. Die Nuss-Honig-Füllung zerfliesst auf meiner Zunge. Eine Frage kommt auf: „Macht dich diese Situation nicht traurig?“
Aloisia antwortet: „Anfangs schon, aber nach 40 Jahren Berufserfahrung nicht mehr. Irgendwann habe ich realisiert, dass die Leute unsere Arbeit nicht wirklich als Arbeit, sondern vielmehr als eine Art Freizeitbeschäftigung wahrnehmen. Als ob wir von Luft und Liebe leben könnten. Die Leute werden sich nicht ändern, wie du eben bestätigt hast, aber wir“  – sie wirft Dominik einen Blick zu – „können was ändern. Wir bestimmen die Preise und machen die Geschäfte, wie wir das für richtig halten. Und es liegt an uns, die scheinbar alleinige Verantwortung für diese fasnächtliche Tradition abzugeben und zwar an die Leute selbst.
Das Geschäft lief anfangs nicht gut. Wir haben die Masken zu günstig verkauft. Dominik vertrat dieselbe Meinung wie unsere Kunden: Die Masken dürfen nicht zu teuer sein, damit sie sich alle leisten können. Schliesslich sei die Fasnacht eine Tradition, die gepflegt werden soll. Nach vielen Streitereien und einem negativen Kontokorrent hat er dann eingewilligt, die Preise zu erhöhen.“ Wieder ein Blick zu Dominik.
„Ich weiss. Aloisia hat ja recht gehabt. Ohne sie wären wir wahrscheinlich Konkurs gegangen. Heute habe ich nichts mehr mit der Buchhaltung zu tun, das macht jetzt alles sie. Ich bin für die Produktion zuständig, was mir auch viel mehr Spass macht.“
„Ich bemale zwar noch ab und zu die Masken, jedoch fühle ich mich für die fristgerchte Auslieferung nicht mehr verantwortlich. Seit dieser klaren Trennung und dem Preisaufschlag läuft das Geschäft ganz gut. Heute versuche ich diesen unangenehmen Situationen, wie heute Morgen in der Bäckerei, mit Humor und Klarheit zu begegnen. Was heute wieder einmal mehr geklappt hat.“
Dominik stellt die Tassen zusammen: „Jetzt gehen wir wieder an die Arbeit. Zu zweit haben wir nur halb so lange.“
Wir stehen auf. Räumen den Tisch ab und verschwinden wieder im kleinen Raum, wo wir die restlichen Masken zu drücken haben.

Maskenbemalung, Zeitung Bote der Urchweiz, 12. Januar 1979

*Beitragsbild, Postkarte, 21 rue Mesley, Paris, um 1870, Internet
Dominik Kälin notierte diese Adresse mit dem Namen Masken Georges Hermann mehrmals in seinem Notizheft.