Reise nach Einsiedeln, Dominik Kälin – Teil 1

Arbeitsalltag, Besuch bei Maskenfabrikantin, Maskenhistorie

Heute reise ich nach Einsiedeln. Eine Stunde Zugfahrt und ich befinde mich in Mitten von Schneebergen. Die Strassen und Häuser sind umgeben von Schneehaufen.

Bahnhof Einsiedeln, 2019

Das Archiv der Sammlung Chärnehus in Einsiedeln konnte mir keine genaue Adresse von Dominik Kälins (1841-1909) Werkstatt angeben. Nebst dem Nekrolog und einem Foto von ihm ist nichts bekannt. Meine Kontaktperson A.B.* aus Einsiedeln erzählte mir, dass im Biergarten Wachsmasken verkauft wurden.

Nach fünf Minuten zu Fuss erkenne ich das Schild zum Biergarten. Ein Restaurant. Das Gebäude scheint vor einigen Jahrzehnten renoviert worden zu sein. Ausser dem Schild gibt es sonst keine Anzeichen einer Gaststätte. Ich gehe um das Haus herum und glaube, unter einer meterdicken Schneedecke die Terrasse der Wirtschaft zu erkennen.
Es gibt eine Klingel und einen Briefkasten die mit Restaurant Biergarten beschriftet sind. Der Eingang ist abgeschlossen. Ich entferne mich einige Schritte und betrachte das Gebäude. Ein komischer Bau. Lieblos. Ohne Leben. Auf der rechten Seite gibt es einen undefinierbaren Laden. Geschlossen. Mich schaudert beim Gedanken zu Klingeln.
Die Vorstellung, dass hier wahrscheinlich niemand wohnt und die Tür verschlossen bleibt, macht mich mutig. Ich klingle; schliesslich ist das die einzige konkrete Adresse, die mich zu Dominik Kälin führen könnte.

Restaurant Biergarteen, Terrasse, Einsiedeln, 2019

Restaurant Biergarten, Einsiedeln, 2019

Zum Biergarten, 1898, Sammlung Chärnehus, Einsiedeln

Hinter der Glastür bewegt sich ein Schatten. Eine ältere Frau öffnet die Tür. Sie trägt eine dunkle hochgeschlossene Arbeiterinnen-Tracht. Ihre schweren Lederschuhen klacken auf dem Holzboden.
„Grüezi, wie kann ich Ihnen helfen.“
„Ich bin auf der Suche nach Wachsmasken. Jemand hat mir erzählt, dass hier im Biergarten welche verkauft werden.“
„Das ist richtig. Kommen Sie doch rein, dann können Sie sich umschauen.“

Helena Oechslin-Lindauer (1822 bis 1909), Sammlung Chärnehus, Einsiedeln

Ich folge der Frau den Gang entlang. Die Dielen knarren unter den Füssen. An den braunen Holzwänden sind viele Masken aufgehängt. Wir betreten einen grösseren Raum. Es ist angenehm warm. Die Frau bleibt vor der Ausstellungswand der Masken stehen.
„Hier. Diese Masken verkaufen wir hier.“
Bin richtig hier. Einige der Masken erkenne ich. Die Bemalung ist anders, aber die Form die selbe.
„Sie haben eine schöne Auswahl. Sind das alle Masken?“
„Nein, nein“, sie lacht, „Aber die Kunden bestellen immer etwa die Gleichen. Es gibt über vierhundert verschiedene Formen. Sind Sie das erste Mal hier?“
„Hier bei Ihnen in der Werkstatt schon. Die Masken an sich kenne ich hingegen gut. In hundert Jahren werde ich diese Masken herstellen.“
„Möchten Sie mir sagen, dass, heute haben wir 1908, also 2008 immer noch diese Masken getragen werden?“
„Genau. Die traditionellen Fasnachtsmasken (Nüsseln und Integrieren) sind praktisch unverändert.“
Es klingelt an der Tür. Die ältere Frau verlässt den Raum. Ich ziehe die Winterjacke aus und schaue mich um. Nebst den Masken werden auch Kostüme verkauft. So weit ich es beurteilen kann, werden hier die Masken nicht hergestellt. Ich setze mich an den kleinen Holztisch. Auf einer Häckeldecke sind ein Radio und ein Stapel von Zeitschriften deponiert. Mein Blick schweift zu der Maskenwand. Mache ein Foto.

Masken Ausstellungswand, Gersau, um 1980, Privatarchiv

Stimmen kommen näher. Ein Mann möchte drei Masken kaufen. Wir begrüssen uns. Die Frau holt eine Kartonschachtel hervor und kassiert ein.
Nachdem der Mann gegangen ist, setzt sich die Frau zu mir an den Tisch. Unsere Blicke treffen sich.
„Sie sagen also, dass in hundert Jahren diese Masken noch herstellen werden? Das ist sehr schön zu hören. Wer sind Sie? Und wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Meine Maskenwerksatt befindet sich in Aroleid und mein Name ist Ari Drückerin. Seit einigen Monaten recherchiere ich über die Herkunft meiner Maskengipsformen. Entschuldigen Sie, ich meine natürlich unsere Maskengipsformen.“ Ich lächle sie kurz an. Eine schöne Vorstellung, nicht die alleinige Besitzerin dieser Formensammlung zu sein. Die ältere Frau nickt langsam:
„Nun es ist so, ich selbst stelle die Masken nicht her, ich verkaufe sie lediglich. Wenn Dominik, der Maskenfabrikant, mit der Arbeit nicht nachkommt, dann helfe ich schon mal aus.“
Ich spüre wieder, die mir bekannte Unruhe. Das ist die richtige Spur. Sie wird mich zu Dominik Kälin führen.
„Heisst der Maskenfabrikant Dominik Kälin?“
„Ja genau. Sie kennen ihn bereits?“
„Das ist übertrieben. Ich habe seine Notizbücher über die Herstellung von Wachsmasken bei mir zu Hause und möchte ihn gerne persönlich treffen. Leider gibt es keine Adresse von ihm, also dachte ich, dass ich hier im Biergarten vorbeischaue. Wie ist denn ihr Name?“
„Ich bin Helena Oechslin-Lindauer (1822-1909), die Witwe des Wachsbossierers Adelrich Oechslin (1823-1872). Mein Mann hat früher Wachsmasken hergestellt. Ich habe ihn immer bei der Arbeit unterstützt und als er gestorben war, die Maskenfabrik übernommen. Dominik hat bei uns bereits als Junge tüchtig mitgearbeitet. Er hat sich schon immer für dieses Handwerk interessiert. Vor wenigen Jahren hatte Dominik dann offiziell die Maskenfabrik übernommen.
Die Herstellungsart hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Dominik reiste nach Paris und lernte eine neue Machart kennen. Mein Mann hatte noch Einzelanfertigungen gemacht, doch Dominik ist an einer grösseren Produktionsmenge interessiert. Er schwärmt von den grossen Maskenfabriken in Paris und träumt selbst eine aufzubauen. Eine kleinere Version davon ist ihm gelungen. Wenn Sie sagen, dass die Masken hundert Jahre später auch noch produziert werden, war seine Intension wohl richtig.“ Sie lächelt zufrieden. „Möchten Sie Dominik Kälin in seiner Werkstatt besuchen?“
Ich nicke: „Wenn das möglich ist?“
„Sicher, wir haben ja kurz vor Fasnacht, da gibt es viel zu tun. Sie kennen die Arbeit ja. Wenn Sie wollen, können Sie ihm vielleicht aushelfen.“ Wir lachen. Lustiger Gedanke.
„Seine Werkstatt befindet sich nur zwei Minuten von hier. Ich kann Sie leider nicht begleiten, ich erwarte noch Kunden.“
Ich stehe auf. Ziehe meine Jacke an.
„Es hat mich sehr gefreut Sie kennen zu lernen. Wenn Sie wollen, können Sie mich in meiner Werkstatt besuchen.“
„Vielen Dank. Gerne nach der Fasnacht. Vielleicht kommt ja Dominik mit.“
„Das würde mich sehr freuen.“
Helena Oechslin führt mich zur Tür und wir verabschieden uns.
Der Schnee blendet. Blinzle. Auf gehts zu Dominik Kälin.

*Der vollständige Name ist der Drückerin bekannt
**Beitragsbild, Zugfahrt nach Einsiedeln, 2019