Besuch bei Rosa Müller-Diethelm – Teil 1

Besuch bei Maskenfabrikantin, Maskenherstellung, Maskenhistorie

Die Fahrt nach Speicher dauert anderthalb Stunden. Ich nehme den Zug, dann kann ich wenigstens etwas Büroarbeit erledigen. Wir haben November und die nächste Fasnacht steht vor der Tür.
Seit gestern spüre ich eine Unruhe in mir. Sie raubt mir sogar den Schlaf. Zweimal bin ich aufgestanden, Fragen aufgeschrieben und Fotos aus meinem Archivordner zusammengestellt. Ich bin nervös. Mails mache ich später, lieber schreibe ich am Blog, das beruhigt.
In St. Gallen steige ich in einen kurzen Zug. Die Bahn fährt den Berg hoch. Diese Aussicht. Verstreute Häuser in einer romantischen Hügellandschaft. Die vereinzelten Sonnenstrahlen bilden Flecken auf den Hügeln. Wie es wohl hier aussieht, wenn der Nebel über die Hügeln schleicht und alles in einem Grau versinkt?
Ich steige in Bendlehn aus. Nach wenigen Minuten erkenne ich das Gelände. Erstaunlich, wie wenig sich das Haus verändert hat. Die Ähnlichkeit mit der Abbildung auf der alten Stichplatte zu Hause ist frappant. Es sind drei Häuser. Ein zweistöckiges, längliches und ein vierstöckiges Riegelgebäude. Dazwischen befindet sich ein kleineres Holzhaus, das aus neuerer Zeit stammt.
Der Garten vor dem vierstöckigen Haus ist gepflegt. Am Klingelschild steht der Name Müller. Ich bin also richtig. Nach einem tiefen Atemzug drücke ich die Klinge. Stille. Nur das Plätschern des Brunnens im Garten. Ich schaue mich um, hat mich jemand beobachtet? Ein Auto fährt vorbei. Ich spüre den Blick des Fahrers auf mir ruhen. Wahrscheinlich reine Neugier. Ein Blick durch das Fenster sagt mir, dass hier die Familie wohnt. Also muss die Maskenfabrik Müller sich im anderen Gebäude befinden. Ich fasse neuen Mut. Gehe mit festem Schritt zur nächsten Tür. Licht brennt und eine Frau ist bei der Arbeit. Ich klingle ein weiteres Mal. Niemand öffnet. Ich mache einen Schritt rückwärts und mein Blick schweift an der Hausmauer entlang. Hinter einem Fenster im ersten Stock erkenne ich eine Frau. Die Haare nach hinten gesteckt, scheint sie konzentriert einer Arbeit nachzugehen. Ich gehe ein paar Schritte seitwärts durch das nasse Gras und erblicke einen Mann in einer Arbeitsschürze bei einem Gespräch mit einer anderen Frau. Über was sie wohl reden? Durch die Mauer hindurch fühle ich, dass hier viel gearbeitet wird.
Ich überlege, die ganze Aktion abzubrechen und wieder nach Hause zu gehen.

Maskenfabrik, Speicher AR, 1954, Privatarchiv

Gebäude der ehemaligen Maskenfabrik, Speicher AR, 2018

Ohne zu klingeln trete ich ein. Ein bekannter Geruch nach Bienenwachs, Leim und Stoff steigt mir in die Nase. Angenehm, wie bei mir zu Hause. Es läuft Radio, typische 50er-Jahre-Musik und irgendeine Maschine lebt nach ihrem eigenen Rhythmus. Hohe Fabrikfenster tauchen die Werkstatt in ein warmes Licht. Drei Frauen stehen an einem Tisch und drücken Masken. Der Mann steht nun im hinteren Teil des Raumes und arbeitet an seinem eigenen Tisch. Alle sind sehr konzentriert bei der Arbeit, sodass ich in Ruhe dieser Szene beiwohnen kann.

Skizze der Maskenfabrik um 1960, 2018

Drückerinnen bei der Maskenherstellung, um 1960, Privatarchiv

„Kann ich Ihnen helfen?“ – Ich erschrecke. Mit einem Mal bin ich selbst Teil des Geschehens. Ich blicke in freundliche und doch strenge Augen. Die Brille und dieses lockige Haar kenne ich. Es ist Rosa Müller. Sie kommt auf mich zu und schaut mich erwartungsvoll an.
„Kann ich mich hier etwas umschauen? Ich bin zufällig vorbeigekommen.“
„Das können Sie, solange Sie nicht die Leute von ihrer Arbeit abhalten. Ich habe im Moment keine Zeit für Besuche. Wir haben viel Arbeit.“ Rosa Müller macht kehrt und verschwindet wieder hinter ihrem Regal. An ihrem Rockzipfel hängt ein kleines Mädchen. Es dreht sich zu mir um und ich sehe in zwei traurige Augen. Ob das wohl die Tochter ist, die mich diesen Sommer angerufen hat? Das Alter würde passen.
Die Blicke der Angestellten auf mir, wende ich mich den Maskengipsformen in der Mitte des Raumes zu.

Maskengipsformen, undatiert, Privatarchiv

Komisch. Die selben Maskenformen wie bei mir zu Hause. Auf dem Tisch wird gerade der Blätz, eine traditionelle Fasnachtsmaske, gedrückt. Zu Hause wartet auf mich auch noch eine grosse Blätz-Bestellung. Vier Frauen arbeiten gleichzeitig. Ich rechne hoch. Das bedeutet, wenn ich jeden Morgen 20 Masken drücke, werden hier folglich 60 gedrückt. Pro Monat 1200 und pro Saison 4800. Nicht schlecht. Eine richtige Manufaktur eben. In einer anderen Zeit wäre ich also eine Fabrikbesitzerin gewesen. Ein amüsanter Gedanke.
Ich gehe dem Bienenwachsgeruch nach. Es dampft aus zwei Wachstöpfen und zwei Angestellte behandeln die Masken mit Wachs. Sie werden zum Trocknen aufgereiht. Viele davon sind mir bekannt.

Wachsmasken, Speicher AR, um 1960, Privatarchiv

*Beitragsbild, Zugfahrt nach Speicher AR, 2018