Wichtiger Anruf

Archivierungsfrage, Im Atelier der Drückerin, Maskenhistorie

Heute habe ich das winzige Archiv meines Ateliers gesichtet. Es ist ein verblasster, violetter Ordner, dessen Inhalt überquillt. Viele Zeitungsartikel sind in durch die Jahre vergilbten Sichtmäppchen abgelegt. Weiter hinten handgeschriebene Notizzettel. Kopien aus einem Buch. Fotos. Ich mochte es nie besonders, wenn über mich berichtet wurde. Die Journalisten haben den Hang zur Übertreibung, was mir unangenehm ist. Zum Beispiel wurde die jährliche Produktionsmenge als ein Vielfaches dessen beschrieben, was sie tatsächlich ist. Immer wieder wird geschrieben, dass die Familie Müller diese Maskenfabrik 1927 gründete. Schon seit einigen Jahre habe ich den Verdacht, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Und jetzt ist es an der Zeit, der Sache nachzugehen. So kann ich vielleicht den Medien schon bald mehr Inhalt bieten.

Eine Ausnahme bildet der aktuellste Bericht. Er wurde von einem Historiker geschrieben und diesen Sommer anlässlich meines Umzugs veröffentlicht. Der Umzug wurde zu einer Entrümpelungsaktion. Manch alte Stoffballen, kiloweise vergilbte Fransen, Brillen und Perücken haben das Atelier verlassen. Es ist nur noch halb so gross. Bewusst ausgewählte Requisiten durften bleiben. Dinge, mit denen ich tagtäglich arbeite und die selbst mich überleben werden. Eben diese alten Objekte, die einen gewissen Charme auf mich ausüben. Da ist die metallene Augenstanzmaschine, ein Wachssieb und ein Regal für das Trocknen der Masken.

Augenstanzmaschine, 2018

Heute weht eine frische Brise durch die Arbeitsräume. Ich kann atmen. Sehr angenehm. Ich arbeite komplett alleine und habe mich jetzt gut eingerichtet. Ohne Staubfänger aus der Vergangenheit. Zur Feier dieser neuen Frische habe ich eine öffentliche Besichtigung organisiert.
Im Zeitungsartikel, der diesen Sommer erschien, wurde über meine Neueröffnung berichtet. Damit fing alles an: Ich sass draussen im Garten. Das Telefon klingelte. „Spreche ich mit der Frau Drückerin?“
„Ja, am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin die Tochter von der Maskenfabrik Müller.“
Stille. Ich rechnete schnell im Kopf nach. Wenn sie tatsächlich die Tochter ist, ist sie über 70 Jahre alt. Sie lebt also noch. „Das ist aber eine Überraschung. Wie sind Sie auf mich gestossen?“
„Ich habe Ihren Artikel in der Zeitung gelesen. Eine Freundin brachte ihn mir vorbei. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue. Diese Masken werden immer noch hergestellt. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich habe auf dem Foto die Formen wiedererkannt. Das sind genau die Gleichen!“
Wir redeten beinahe eine Stunde. Die Freude war auf beiden Seiten spürbar.
Diesen Sommer das Telefonat, letzte Woche die Begegnung in Nürnberg. Grund genug für einen Besuch bei der Maskenfabrikantin Rosa Müller-Diethelm.

*Beitragsbild, Maskenformenregal, 2018