Kaffee mit Rosa Müller-Diethelm – Teil2

Archivierungsfrage, Besuch bei Maskenfabrikantin

„Sie scheinen sich ja wirklich zu interessieren. Jetzt sind Sie bereits eine Stunde hier. Wie kommt das?“
Die Maskenfabrikantin Rosa Müller – Diethelm (1910-2003) riss mich aus meiner Gedankenwelt. „Ich bin selbst eine Maskenfabrikantin.“ Was für ein Wort: Maskenfabrikantin. So habe ich mich noch nie beschrieben. Ich glaube es gefällt mir.
„Wie kann das sein? Sie scheinen aus der Schweiz zu kommen und hierzulande bin ich die Einzige, die Wachsmasken herstellt.“
„In ungefähr dreissig Jahren werde ich Ihre Maskenfabrik kaufen. Und die gleichen Masken mit den selben Formen herstellen wie Sie.“
„Das bedeutet, unsere Masken werden in 50 Jahren immer noch produziert?“
„Genau, so ist es.“
„Das ist ja sehr erfreulich.“ Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Wissen Sie was, haben Sie Zeit für einen Kaffee? Ich möchte Sie gerne etwas besser kennenlernen.“
„Sehr gerne.“
„Emil, ich mach mal eine Pause. Ich nehm die Kleine mit.“ Ich liege also richtig, der Mann ist eine Art Vorarbeiter.
„Heute ist ein wunderbarer Herbsttag. Sie können sich gerne hier an die Sonne setzen, ich hole uns einen Kaffee.“ Sie trägt eine am Rücken zugeknöpfte Arbeiterinnenschürze mit Blumenmuster. Auf Wadenhöhe ist der Saum eines dunkelblauen Kleides zu erkennen. Die hautfarbenen Nylonstrümpfe bilden einen harten Kontrast zu den festen Lederschuhen. Das Mädchen öffnet tänzelnd die Haustür.

Gebäude der Maskenfabrik Müller, Speicher AR, 2018

Ich sitze auf einer Holzbank. An die Hauswand gelehnt, schliesse ich die Augen. Warme Herbststrahlen wärmen mein Gesicht.
Rosa Müller stellt das Tablett mit Kaffee und einigen Keksen, Zucker und Milch auf den Metalltisch. Sie zieht ihre Schürze aus und hängt sie über die Stuhllehne. Das Mädchen schnappt sich einen Keks und geht mit der Katze spielen.
„So, jetzt erzählen Sie mal. Wie kommt es, dass Sie mich gefunden haben?“
„Diesen Sommer hat mich Ihre Tochter, Pia, angerufen und erzählt, dass Ihre Mutter, also Sie, die gleichen Masken wie ich hergestellt hat.“
Rosa Müller deutet auf das kleine Mädchen im Garten. Ich nicke zustimmend.
„Wie alt ist sie jetzt?“
„Vierundsiebzig.“
„Geht es ihr gut? Ist sie glücklich?“
„Ja, ich denke schon. Wir haben uns einmal getroffen. Wir kennen uns also nicht besonders gut.“
Sie trinkt einen Schluck Kaffee und schaut ihrer Tochter beim Spielen zu. „Wissen Sie, seitdem mein Mann vor drei Jahren plötzlich verstorben ist, ist es nicht einfach für meine Kleine.“
„Was ist passiert?“
„Friedrich reiste wie jedes Jahr an die Mustermesse nach Basel. Unser ältester Sohn begleitete ihn. Darauf war er besonders stolz. Zwischen Bendlehn und Speicher hatte er dann einen Herzinfarkt. Er ist gleich gestorben. Das war ein grosser Schock für uns. Es war im April 1951. Das bedeutet, die Fasnacht war soeben zu Ende gegangen.“
„Zum Glück!“
„Na ja wie man es nimmt. In diesen Monaten hatten wir natürlich ziemlich viel Geld auf dem Konto und ich musste sehr viel Nachlasssteuer bezahlen. Ich habe der Steuerbehörde erklärt, dass wir von diesem Geld ein Jahr lang leben werden, aber davon wollten sie nichts wissen. Wir mussten sehr unten durch, aber jetzt geht es uns langsam besser. Ich entwickle Gefallen daran, eine Geschäftsfrau zu sein. Sie müssen wissen, mein Mann war ein angesehener Patriarch im Dorf mit einer netten Frau an seiner Seite. In geschäftlichen Dingen durfte ich nicht mitreden. Meine Aufgabe war es, für Haus und Kinder zu sorgen. Natürlich habe ich meinem Mann auch in der Fabrik geholfen. Aber als gleichberechtigte Maskenfabrikantin wurde ich nie betrachtet. Heute ist das anders. Ich kann über alles selbst entscheiden. Auch über Geld.“ Ein Funkeln in ihren Augen. „Das gefällt mir. So kann ich uns auch mal etwas Schönes zum Anziehen kaufen. Im Moment überlege ich mir sogar, die Autoprüfung zu machen. Das hätte mein Mann mir nie erlaubt. Trotz allem vermisse ich ihn jeden Tag. Wir waren glücklich und er war ein guter Vater für unsere Kinder.“

Friedrich Müller, um 1940, Privatarchiv

„Auch ich habe zwei Kinder und führe das Geschäft alleine. Ich kenne auch schwierige Zeiten. Anfangs haben mein Mann und ich zusammen das Atelier geführt. Wir haben immer sehr viel gearbeitet. Es gab Zeiten, da wusste ich nicht, ob wir durchkommen. Die Situation beruhigte sich etwas, nachdem mein Mann eine auswärtige Arbeit annahm. Plötzlich war ich dann, wie Sie, selbst Geschäftsinhaberin. Vom Kauf der Maskenfabrik hatte ich immer noch Schulden bei meinen Eltern. Mein allerhöchstes Ziel war es, diese Schulden zurück zu zahlen. Was mir nach zehn Jahren auch gelang. Seitdem fühle ich mich erleichtert. Zu diesem Zeitpunkt waren meine Kinder bereits ausgezogen. Wegen der vielen Arbeit konnte ich nicht viel Zeit mit ihnen verbringen. Das machte mich traurig. Und einsam. In meinem Dorf war ich die einzige Mutter, die gearbeitet hat. Hast du auch manchmal ein schlechtes Gewissen deinen Kindern gegenüber, weil du immer so viel arbeitest?“
„Ja und wie. Jedes Jahr reise ich mit meinem Musterkoffer in der ganzen Schweiz umher. August und September bin ich dann sehr selten zu Hause. Besonders das Mädchen kommt damit nicht gut zurecht. Die Jungs sind älter, da weiss ich sowieso nicht so recht, wie es ihnen geht. Seit zwei Monaten bin ich wieder zu Hause. Und Pia weicht mir nicht von der Seite. Hat Angst, von mir auch noch verlassen zu werden. Das macht mich sehr traurig.“ Frau Müller starrt für einen kurzen Moment ins Leere.
Kurz darauf fasst sie sich wieder. Nimmt einen Schluck Kaffee und führt das Gespräch fort: „Wie läuft das Geschäft bei Ihnen heute so? Können Sie gut davon leben?“
„Ich komme durch. Es ist O.K. Dank der Fasnächtler, die jedes Jahr ihre Masken verbrennen, habe ich ein fixes Einkommen. Bendlehn hat eine ähnliche Grösse wie mein Dorf. Dort wo ich wohne, bin ich weit und breit die Einzige, die selbstständig erwerbend ist und Kinder hat. Es gibt Momente, da fühle ich mich einsam.“
Frau Müller lächelt. „Nur zu gut kenne ich das. Ich denke, weil mein Mann im Dorf angesehenen war, werde ich durchaus respektiert. Jedoch, eine freundschaftliche Nähe gibt es keine. Ich weiss nicht, warum das so ist. Ich denke, die Leute, Mann und Frau, haben einen Respekt vor mir als Geschäftsbesitzerin, der sie auf Distanz hält. Und vielleicht, weil ich keinen Mann habe, passe ich nicht in ihr gesellschaftliches Bild. Im Nachbarort habe ich hingegen einige gute Freunde. Dort verbringe ich eigentlich vor allem meine Freizeit. Mit denen habe ich es sehr lustig.“
„Bei mir ist das ähnlich. In den ersten Jahren, als ich das Geschäft alleine führte, wurde ich immer wieder nach dem Befinden meines Mannes gefragt. Was mich mit der Zeit nervte. Es fühlte sich so an, als ob ich nicht als geschäftstauglich angesehen wurde. Richtig geändert hat sich das erst, als ich das Atelier verkleinert habe und in andere Räume gezogen bin. Seitdem werde ich nicht mehr so oft nach meinem Mann gefragt. Im Dorf selbst geht es mir ähnlich wie dir. Ich fühle mich durchaus respektiert, aber wohlfühlen ist anders. Ich finde meinen Ausgleich ebenfalls ausserhalb, wo ich auch viele gute Freunde habe.“
„Interessant, die Ähnlichkeit. Woran das wohl liegt?“ Rosa Müller rührt in Gedanken versunken in ihrem Kaffee.
Ich überlege. „Ich weiss nicht. Sind Sie hier aufgewachsen?“
„Nein, ich bin wegen meinem Mann hierhergezogen, der aber auch nicht von hier ist. Und Sie?“
Eine weitere Ähnlichkeit. „Ich bin ebenfalls mit meinem Mann zusammen in das Dorf gezogen. Das erinnert mich an eine aktuelle Situation. Ein Journalist ging letztes Jahr an die Fasnacht und war über die zahlreichen Holzmasken sehr verwundert. Er fragte jemanden, warum hier denn keine Wachsmasken getragen werden. Da kam doch prompt die Antwort: Sie ist eben keine Hiesigi. Also keine von hier.“
„Wie lange leben Sie denn schon dort?“
„Seit 30 Jahren!“
Rosa Müller lacht laut auf: „Das könnte mir bestimmt auch passieren!“ Es tut gut mit ihr darüber zu sprechen.
„Ich habe noch eine Frage.“
„Nur zu, es ist sehr amüsant mit Ihnen!“
Mein Kaffee ist in zwischen kalt. Ich trinke ihn in einem Schluck aus und R. Müller schenkt mir nach. „Bevor ich bei Ihnen vorbeigekommen bin, habe ich im Staatsarchiv nach Ihnen gesucht. Die haben fast keine Dokumente über die Maskenfabrik, geschweige denn über Sie. Es gibt im Handelsregister einen Eintrag bei der Übernahme der Maskenfabrik Müller auf ihren Namen. Das wars. Sonst nichts. Die Archivarin war sehr überrascht. Schliesslich sei die Textilindustrie sehr gut archiviert. Da wurden auch einige Bücher geschrieben. Aber von der Maskenfabrik fehlt jede Spur.“ Ich lege eine Pause ein.
„Sie müssen wissen, ich bin ein kleiner Fisch neben der Textilindustrie. Ich kann mir vorstellen, dass die Textilindustrie ein nobleres Ansehen hat als die Maskenindustrie. Die Wachsmasken können nur einmal getragen werden, sie sind ein Alltagsprodukt. Das ist einfach so. Da ist nichts zu machen.“
Ich stimme ihr aus Höflichkeit zu. Ich kenne diese Reaktion aus anderen Gesprächen. Ich stehe vor der Wahl, mir den Mund voll zu reden, oder zu schweigen. Hier entschiede ich mich für das Zweite. Ich möchte Rosa Müller kennenlernen und ihr nicht mit Konfrontation begegnen. Noch eine letzte Frage drängt mir auf: „Wie wünschen Sie sich, dass nach Ihrem Ableben über Sie und Ihre Arbeit gesprochen wird? Was für eine Spur möchten Sie hinterlassen?“
Frau Müller denkt nach. Ihr Blick schweift wieder ins Leere. Die tiefe Herbstsonne streift ihr Haar. Sie ist hübsch, denke ich. Sie nimmt sich einen Schluck Kaffee und schaut mir dann direkt in die Augen. „Die Maskenfabrik war das Baby meines Mannes, das ich geerbt habe. Es liegt mir wahnsinnig viel daran, dass die Fabrik in gute Hände gelangt, so dass weiterhin Masken in guter Qualität hergestellt werden. Ja, das ist mein Wunsch. Wie es scheint, ist mein Traum in Erfüllung gegangen. Sie stellen bis heute Masken her.“
„Seit kurzem schreibe ich über die Recherche zur Maskenfabrik in einem Blog. Unsere Begegnung werde ich ebenfalls beschreiben. Ist das in Ordnung für Sie?“
„Sehr gerne, dann erfährt man auf diesem Weg wer ich bin, bzw. war.“ Sie lacht und schliesst die Zuckerdose. „So, jetzt müssen Sie mich aber entschuldigen. Ich muss zurück zu meiner Arbeit.“ Wir stellen das Geschirr zusammen. „Lassen Sie nur, das mache ich später.“ Sie bindet sich ihre Schürze um. Wir geben uns die Hand. „Bin gespannt auf den Text, den sie über mich schreiben werden. Es wurde noch nie über mich geschrieben. In meiner Zeit scheine ich keine interessante Persönlichkeit zu sein.“
„Wie Sie ja wissen, wird sich das ändern.“ Wir lachen beide.
„Übrigens ich bin Rosa.“
„Und ich Ari, von Ariadne“
„Lustig, wir haben unseren ältesten Sohn Dionysos getauft. Dionysos ist der Maskengott in der griechischen Mythologie.“
„Und Ariadne seine Frau.“
„Genau, das passt.“ erwidert Rosa amüsiert.
Wir verabschieden uns.
„Und grüssen Sie meine Tochter!“ Ich winke dem Mädchen zum Abschied.

Ich gehe zum Bahnhof. Der Zug fährt erst in einer halben Stunde. Ich gehe zu Fuss von Bendlehn nach Speicher. Hier auf diesem Weg ist also 1951 ihr Mann Friedrich Müller gestorben.

*Beitragsbild, Rosa Müller-Diethelm (1910-2003) und ihre drei Kinder, um 1950, Privatarchiv