Heute habe ich einen handgeschriebenen Brief erhalten (Beitragsbild). Drei Seiten in sorgfältiger Füllfederschrift auf leicht gelblichem Papier. M.L.O.**, so die Verfasserin, ist durch Zufall auf meinen Blog gestossen. Sie kenne meine Masken. Besonders die Rosarote, die ich letzte Woche gepostet habe. Ein Verwandter hätte die gleichen Masken in Einsiedeln hergestellt.
Sie schreibt:
„Sehr geehrte Frau Drückerin
[…] Jedesmal wenn ich meine Mutter in ihrer Kur besuchte, gingen wir ins Restaurant Schwert. Vis-à-vis war damals die heutige Maskenfabrikation und in den Fenstern die Masken ausgestellt. […] Mutter sagte jedesmal, dass zum Teil die genau gleichen Gesichter ausgestellt seien, wie Vetter Domini sie damals gemacht habe. […] Ich habe noch ein Bestellbüchlein von den Geschäftsreisen, eine Aufstellung der Lieferanten. […] Mit freundlichen Grüssen, M.L.O.“

Masken, Ausstellungswand, um 1980, Privatarchiv
Ich möchte M.L.O. kennenlernen. Sie steht im Telefonbuch. Nach dem dritten Klingeln hebt sie ab.
„M.L.O.?“
„Grüezi Frau O. Hier ist Ari Drückerin. Ich habe heute früh Ihren Brief erhalten. Vielen Dank. Ich habe mich sehr gefreut und möchte gerne alles erfahren, was Sie wissen.“ Ich mache eine Pause. Versuche meine Aufregung unter Kontrolle zu bringen. Möchte professionell wirken.
„Schön, dass Sie mich anrufen. Glauben Sie mir, ich war letzte Woche wahnsinnig überrascht, als ich durch Zufall auf Ihren Blog gestossen bin. Ich konnte nicht schlafen. Hab all meine Unterlagen durchgeschaut. Sie müssen wissen, ich bin eine Sammlerin. Da hat sich in den letzten Jahren einiges zusammengetragen. Ich habe Ihnen ja geschrieben, dass ich noch Dokumente von meinem Vetter habe.“
„Was sind das für Dokumente?“
„Ein schönes Moleskin mit Bestellungen, ein Notizheft, darin steht auch etwas über die Herstellung und alte Rechnungen.“
„Echt? Das ist ja genial!“
„Ich selbst kannte Vetter Domini nicht. Meine Mutter kannte ihn und seine Masken sehr gut.“
„Lebt denn Ihre Mutter noch?“
„Nein, sie ist schon vor langer Zeit verstorben. Ich kann sie jedoch fragen, ob sie Sie gerne besuchen möchte. Ich habe ab und zu Kontakt mit ihr. Sie ist immer noch Teil meines Lebens.“
Ein Besuch aus der Vergangenheit ist das Beste was mir passieren kann. „Wenn das so ist, möchte ich sehr gerne ihre Mutter kennenlernen.“
„Gut. Einverstanden. Nächste Woche muss ich sowieso nach Aroleid. Wie wäre es, wenn ich Ihnen meine Mutter vorbeibringe? Dann können Sie sich mit ihr unterhalten. Ich weiss, Sie haben im Moment Saison, so kurz vor Weihnachten.“
Ich falle ihr ins Wort. „Das ist kein Problem. Für solche Dinge kann ich mir die Zeit immer nehmen. Dienstagnachmittag habe ich Zeit. Passt das für Sie auch?“
„Moment. Ja, das geht.“ Wir verabschieden uns und legen auf.
Ich bleibe einige Minuten reglos sitzen. Stehe auf. Mache Kaffee. Die Mutter von Frau O. wird mich besuchen. Ob sie vielleicht tatsächlich einige Masken wiedererkennen wird? Die Kaffeemaschine ist aufgeheizt. Ein heisser, starker Kaffee ist jetzt genau das Richtige.
*Beitragsbild, Brief von M.L.O., 1992, Privatarchiv
**Der vollständige Name ist der Drückerin bekannt.