Namenlos

Archivierungsfrage, Maskenhistorie

Seit letzter Woche spüre ich, wie sich meine Perspektive auf mein Leben verändert. Irgendwie unheimlich.

Heute erinnere ich mich an einen alten Zeitungsartikel mit der Überschrift: Schweizerische Maskenfabrik Speicher schloss ihre Pforten (Appenzeller Tagblatt, 2. August 1974). Bereits vor Jahren las ich diesen Artikel über den Verkauf der Maskenfabrik von Rosa Müller-Diethelm (1910-2003). Nichts Besonderes, dachte ich.
Heute will ich wissen, mit welchen Worten die Maskenfabrikantin Rosa beschrieben wird. Meine Augen suchen den Artikel nach ihrem Namen ab. Am Ende des Textes angekommen, beginne ich wieder von vorne. Ich kann es nicht fassen. Ihr Name wird nicht erwähnt. Kein einziges Mal. Ich spüre meinen Puls. Schaue ins Leere. Warum ist mir das bloss nicht früher aufgefallen?

Der Artikel beginnt mit einer Lobeshymne an ihren verstorben Mann Friedrich Müller (1902-1951):

„1927 übernahm […] Friedrich Müller […] die Maskenfabrik Schupp. Eine solide berufliche Ausbildung, gepaart mit Unternehmungsgeist und der Bereitschaft, Ueberdurchschnittliches zu leisten, hatten eine rasche Ausweitung sowohl des Fabrikationsprogramms als auch des Kundenkreises zur Folge.“

Das mag alles stimmen, war aber damals 30 Jahre her.

„Der unerwartete Hinschied von F. Müller im Jahr 1951 stellte aus verschiedenen Gründen die Fortsetzung der Fabrikation über längere Zeit in Frage.“

Rosa erzählte mir bei unserem Treffen, dass das erste Jahr wegen der Nachlass-Steuer finanziell schwierig war. Doch die Fortsetzung der Maskenproduktion wurde nie in Frage gestellt. Kann sein, dass sich Leute fragten, ob das Rosa überhaupt schaffen wird. So meine Interpretation.

„Dank der Initiative der Gemahlin des (vor 23 Jahren) verstorbenen Unternehmers konnte aber der Betrieb nicht nur aufrecht erhalten, sondern sogar erweitert werden.“

Hier wird das erste und letzte Mal Rosa Müller-Diethelm erwähnt, nicht namentlich, immerhin als Gemahlin.

Ende der fünfziger Jahre entstanden anschliessend an den Fabrikationstrakt moderne Büroräumlichkeiten, um analog zur ausgeweiteten Maskenherstellung auch in administrativer Hinsicht voll genügen zu können.“

Die Lobeshymne über die Maskenfabrik geht noch weiter. Doch der Name Rosa Müller taucht nie auf. Als ob die Maskenfabrik selbst eine natürliche Person gewesen wäre.
Der zitierte Zeitungsartikel wurde in veränderter Form einen Tag später am 3. August in einer anderer Zeitung veröffentlicht. Hier ist dem Journalist ein lustiger Tippfehler passiert:

„Der unerwartete Hinschied von Frau Müller im Jahre 1951 […] Richtig wäre: Der unerwartete Hinschied von F. (Friedrich) Müller im Jahre 1951.“

Hier scheint das Unterbewusstsein des Journalisten die Finger im Spiel gehabt zu haben. Zwar nicht im richtigen Zusammenhang, wird Frau Müller doch noch namentlich erwähnt. Immerhin. Magie sei Dank.

 

*Beitragsbild, Fabrikgebäude der Maskenfabrik Müller, Speicher AR, Appenzeller Tagblatt, 1974