Überraschende Bekanntschaft an der Nürnberger Spielwarenmesse

Arbeitsalltag

Ich reise nun schon seit über zwanzig Jahren jährlich an die Nürnberger Spielwarenmesse. Die Perücken und Nikolausbärte sind eine gute Nebeneinnahmequelle.

An der Messe gehe ich zielstrebig zu meinem Perückenlieferanten. Die bunten und aussergewöhnlichen Haarprachten sind auf einer 40 m2 grossen Fläche ausgestellt. Die schmucken Frisuren und Bärte sind ein Hingucker. Viele Leute betrachten das schicke Kunsthaar und befühlen es fasziniert mit ihren Fingern.

Nürnberger Spielwarenmesse, 2018, Internet

Ich beobachte den Verkäufer, wie er mit seinen Kunden gestikulierend über seine Produkte spricht. In all den Jahren hat sich zwischen uns eine Art Freundschaft entwickelt, was sich in dem freudigen Wiedersehen spiegelt: „Schau mal her, die Frau Drückerin ist wieder mal auf Einkaufstour.“ Er wendet sich von seinen Kunden ab und kommt mir entgegen.
„Auch schön, dich zu sehen! Und was hast du für neue Schmuckstücke?“
Der Verkäufer zeigt mir die Neuheiten. Mir gefallen die geflochtenen Bobis und Kurzhaarfrisuren besonders gut. Jedes Haar perfekt platziert. Kein Sturm und Regen kann da etwas ausrichten. Meine Kunden interessieren sich jedoch nicht für diese Art von Frisuren. Zu teuer und zu besonders. Doch ich kann nicht widerstehen, packe eine aus ihrer Plastikhülle aus, befühle sie und setze sie mir auf. Wahnsinnig feines Haar und wie echt die aussehen.
„Entschuldigen Sie, darf ich mal?“ Ich schaue auf und sehe in ein sympathisches, faltiges Gesicht einer Frau. Ihre Hand berührt mein Perückenhaar. „Entschuldigen Sie die Unnannehmlichkeit, ich bin völlig hin und weg von diesem Haar.“
„Kein Problem und wie steht sie mir?“
„Ausgezeichnet, das könnte glatt Ihr Haar sein.“ Ich gebe ihr mein Handy und posiere lächelnd.
Der Verkäufer nickt schmunzelnd. Seine Augen wandern von der Frau zu mir und wieder zurück. „Kennt ihr euch etwa nicht?“
Ich schaue die Frau fragend an. „Nein, warum sollten wir?“
„Na ja, ich dachte, euer Berufszweig sei nicht besonders gross, da besteht doch durchaus die Möglichkeit sich zu kennen.“
Überrascht starrt mich die ältere Frau an. „Bedeutet das, dass Sie auch Masken herstellen?“
Sorgfältig streife ich die Kurzhaarperücke ab. Es zwickt. „Was für Masken machen Sie denn?“
„Aus Papier. Wir haben eine grosse Fabrik im Osten von Deutschland. Und Sie?“
„Meine Masken sind aus Gaze und Wachs und ich komme aus der Schweiz.“
„Echt, Ihre Masken sind aus Gaze? Nach dem ersten Weltkrieg haben wir auf Papier gewechselt. Vorher stellten wir jedoch auch Gazemasken her. Unglaublich, dass es das noch gibt.“
„Tatsächlich?“ Auch ich bin jetzt überrascht. Mein Haar ist elektrisch geladen. Mit der Hand versuche ich, es zu glätten. Wir betrachten uns gegenseitig, bis die Frau schliesslich als erstes wieder das Wort ergreift. „Sagen Sie, hätten Sie Lust mich mal zu besuchen? Dann haben wir Zeit, über alles Mögliche zu reden. Jetzt passt es leider nicht, mein Zug fährt in einer Stunde. Es würde mich sehr freuen, Sie näher kennen zu lernen, hier ist meine Karte.“
„Vielen Dank. Ich werde mich melden.“
Die Frau unterschreibt noch kurz ihre Musterbestellung der Perücken, die sie bereits gestern ausgewählt hat und hängt sich ihre grosse, braune Ledertasche um. Wir geben uns die Hand und die Maskenmacherin aus Deutschland verschwindet in der Menschenmenge.

Die Begegnung veranlasst mich, diesen Blogeintrag zu schreiben. Auf der Heimreise in die Schweiz überschlagen sich die Fragen in meinem Kopf. Die Vorstellung über mein Leben, meine Arbeit und meine Masken platzen auf der Strecke zwischen Nürnberg und der Schweiz. Ich bin also Teil einer Geschichte, doch welcher Teil? Zugegeben, bis zum heutigen Tag habe ich mir nicht wirklich die Zeit genommen über die Herkunft meiner Maskenformen nachzudenken. Die Begegnung mit der Maskenfrau aus Deutschland hat bei mir etwas ausgelöst. Sie zeigt auf eine Lücke der Wahrnehmung meiner selbst hin, die ich bis dato nicht gesehen habe.
Ich überlege, ob ich etwas über die Geschichte meiner Maskengipsformen herausfinden kann. Und wenn ich etwas herausfinde, möchte ich darüber in diesem Blog schreiben. In den kommenden Tagen werde ich schon mal mit dem Durchstöbern meiner eigenen Dokumenten beginnen.

*Beitragsbild, Spielwaren Lieferant Max Bersinger, Katalog, 1938, Privatarchiv