Besuch von M.O. – Teil 2

Im Atelier der Drückerin, Maskenhistorie

Die entfernte Verwandte des Maskenfabrikanten Dominik Kälin M.O. sitzt mir gegenüber. Zwischen uns vielversprechende Umschläge. Ich hole die Dokumente hervor. Ein kleines, dünnes, blaues Heft, gefaltete Papiere und Fotos.
„Das ist Vetter Domini.“ M.O. zeigt auf ein Foto. „Schauen Sie hier. Da wird Dominik Kälin aufgebahrt.“ Auf der Rückseite stehen die Lebesdaten: 1841 bis 1909.

Dominik Kälin (1841-1909), 1909, Privatarchiv der Familie Oberholzer, Einsiedeln

Das Bild erinnert mich an meinen verstorbenen Grossvater. Er ist zu Hause in einem ähnlichen Bett gestorben. Um ihn die ganze Familie vereint. Frau O. unterbricht meine Gedanken. „Ich weiss noch: Als er gestorben ist, bin ich mit meiner Mutter zu seiner Frau gegangen. Wir haben Blumen gebracht. Er war der erste Mensch, den ich tot gesehen habe. Ich war erstaunt. Er sah so friedlich aus.“
Ich falte vergilbte Papiere auseinander, u.a. eine alte Rechnung an Franz Carl Weber (Beitragsbild). Habe Schwierigkeiten, die Schrift zu lesen. „Darf ich die Sachen fotografieren? Ich möchte das alles genau durchlesen und evtl. von jemandem übersetzen lassen.“
„Sicher, das können Sie gerne tun. Sie können die Sachen für einige Monate ausleihen. Wenn Sie fertig sind, geben Sie meiner Tochter einfach die Sachen wieder zurück.“
„Das ist sehr nett. Vielen Dank. Jetzt möcht ich aber noch kurz in das andere Couvert schauen. Fast wie Weihnachten.“ Ich spüre ein angenehmes Kribbeln im Bauch. „Sie denken, Dominik Kälin hat wirklich mit meinen Maskenformen gearbeitet? Vielleicht gab es ja noch mehrere wie ihn zu dieser Zeit.“
„Das kann ich nicht genau sagen. Das Einzige, was ich weiss, ist, dass Sie gleiche Masken wie Domini herstellen.“
Ich denke nach. „Doch warum Einsiedeln? Bis jetzt weiss ich, dass die Maskenfabrik davor Frau Müller aus Speicher AR besass und jetzt bei mir in Aroleid ist.“

Stille.

„Wir schauen uns jetzt noch das zweite Couvert an und dann zeige ich Ihnen mein Atelier. Vielleicht bringt das uns weiter.“ Im Couvert befinden sich zwei weitere Notizbücher. Ein altes Moleskin mit Maskenbestellungen und ein grösseres Heft mit irgendwelchen Notizen. Ich werde sie später unter die Lupe nehmen.

Abb. 1-3, Notizbücher von Dominik Kälin, um 1900, Privatarchiv der Familie Oberholzer, Einsiedeln

 

Abb. 2

Abb. 3

„Kommen Sie, wir machen einen Rundgang.“ Wir nehmen einen letzten Schluck Tee. Ich stelle das Geschirr in die Spüle und wir gehen in die Werkstatt. „Hier, das ist alles. Ich arbeite heute alleine. Da brauche ich nicht mehr Platz.“
„Das ist in der Tat viel kleiner als bei Domini. Er war, glaube ich, nicht alleine. Seine Frau und auch andere Leute haben bei ihm gearbeitet.“
„Seine Frau? Das überrascht mich keineswegs. Die Ehefrauen von Handwerkern haben meistens sehr viel in der Werkstatt mitgearbeitet. Rosa Müller, die ehemalige Maskenfabrikantin, hat bereits vor dem Tod ihres Mannes viel in der Werkstatt mitgearbeitet.“
„Jetzt wo Sie das erwähnen, erinnere ich mich, dass meine Mutter meinem Vater, der Schreiner war, das Büro und feinere Arbeiten erledigte.“
„In der Öffentlichkeit wird darüber aber kein Wort verloren. Nicht aus Boshaftigkeit. Fällt einfach nicht auf.“
„Stimmt. Bei Domini war das auch so. Er wurde Maskenfabrikant genannt und seine Frau war dessen Frau. Nichts weiter. Interessant. Das hab ich mir noch nie so überlegt.“
„Nicht zu vergessen ist dabei, dass Dominik Kälin mit Sicherheit viel gearbeitet hat und es wahrscheinlich auch nicht immer einfach hatte.“
„Das stimmt wiederum auch. Seine Arbeit wurde auch nicht besonders geschätzt. Ein Beweis dafür ist die Entsorgung seiner Maskenfabrik.“
„Schwierig, das alles nachzukonstruieren.“
M.O. schaut sich neugierig um. Ihr Blick schweift von einem Arbeitstisch zum anderen. Dann steuert sie zielgerichtet auf das Maskenregal zu. „Diese Formen hatte Domini auch. Da bin ich mir ganz sicher!“
Ich halte mich zurück. Abwarten. Nicht gleich nervös werden. Ich nehme eine Form und überreiche sie M.O. ohne Worte. „Oha, die sind ziemlich schwer. Wieviele haben Sie davon?“
„Über 400. Davon habe ich auch die passenden Negative. Die sind aber im Keller. Dafür hab ich hier zu wenig Platz.“
M.O. legt die Form hin. „Da will ich hin.“ Ihre klare, gut verständliche Stimme gefällt mir. Ich lächle. „Gut. Dann gehen wir.“

Ich schalte das Licht ein. Mache einige Schritte. M.O. bleibt stehen und schaut. Nach einer längeren Pause höre ich ruhige, klare Wort. „Also, Frau Drückerin. Das sind definitiv die Formen von Domini Kälin. Ich weiss, dass im umgebauten Haus von Dominik noch alte Negativformen sein könnten. Das hat mir vor Jahren die heutige Mieterin erzählt. Sie meinte, sie wisse nicht, was sie damit anfangen soll. Ich habe ihr geraten, sie auf keinen Fall wegzuwerfen. Ist ja klar, ich als Sammlerin.“ Sie schmunzelt.
„Hab ich das jetzt richtig verstanden? In Einsiedeln auf irgendeinem Speicher könnte es noch die gleichen Formen wie hier geben?“
Ohne Zögern: „Genau.“
Ich schaue M.O. an, dann die Gipsformen und wieder zurück. „Gut. Dann reise ich wohl demnächst nach Einsiedeln.“ Mein Blick fällt zu Boden. „Verrückt.“

Negativformen, Fotografie F.X. Brun, 2016

*Beitragsbild: Rechnung für Franz Carl Weber, 1905
**Der vollständige Namen ist der Drückerin bekannt.