Besuch von M.O. – Teil 1

Im Atelier der Drückerin, Maskenhistorie

Heute ist es soweit. Die Mutter von Frau O.* besucht mich im Atelier. Ich öffne die Tür. Eine ältere Dame.  Wir begrüssen uns. „Grüezi Frau Drückerin. Meine Tochter hat letzte Woche mit Ihnen telefoniert. Ich bin Frau O.“
„Herzlich willkommen. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.“ Ihre wachen Augen erkennen gleich die vielen Maskengipsformen im Hintergrund. Die ältere Dame steht mit offenem Munde da. Die Masken starren zurück. Ich muss innerlich schmunzeln. Die Maskengipsformen scheinen sie freudig zu begrüssen.
„Das haben Sie aber schön ausgestellt. Wahnsinn, ich wusste gar nicht, dass das so viele waren.“
„Es kann auch sein, dass einige Formen erst später dazu kamen. Aber grundsätzlich scheinen Sie sich zu kennen.“
Sie lächelt. „Tatsächlich!“ Das Wasser ihres Schirmes bildet eine kleine Pfütze. Ihr durchnässter Mantel hängt schwer um ihre Schultern. Nicht wirklich passend zu Ihrer sympathischen, offenen Ausstrahlung.

Maskenformensammlung, 2018

„Hier ist es etwas kühl. Kommen Sie rein, dann mache ich uns einen Kaffee oder Tee.“ Wir wenden uns von den Formen ab. Im Atelier ist es angenehm warm. Ihr Blick scannt den Raum. „Kaffee oder Tee?“
In ruhigen Schritten kommt sie zu mir in die Küche. „Bei diesem Wetter gerne einen Tee. Gehört das alles Ihnen?“
Ich fülle Tee in ein Teeei. „Ja schon, in einer Form besitze ich das alles. Wie Sie sehen ist es sehr viel Gips, im Keller hab ich noch mehr davon.“
Frau O. lacht. „Das möcht ich nach dem Tee gerne sehen.“
„Gerne. Möchten Sie ihren Mantel zum Trocknen ausziehen?“ Ich hänge ihn über der Heizung auf. Er ist wirklich tropfnass. „Sehr schön, dass Sie mich besuchen. Ich bin gespannt, was Sie mir alles zu erzählen haben.“ Wir setzen uns an den kleinen Tisch. Ich schenke uns Tee ein.
„Ich erinnere mich gerne an Vetter Domini. Er war ein tüchtiger Mann. Hat immer viel gearbeitet.  Von meinem Kinderzimmer konnte ich in seine Werkstatt sehen. Bis spät in die Nacht brannte jeweils das Licht.“
Ein vertrautes Gefühl kommt hoch. „Das kenne ich. Besonders in den ersten Jahren, gab es gegen Ende der Saison immer Nachtschichten.“
Ihr Blick schweift nach draussen zu den kahlen Obstbäumen im Garten. „Lange ist das alles her. Mehr als hundert Jahre.“ Frau O. richtet sich in ihrem Stuhl auf. „Domini ist 1909 gestorben, da war ich gerade mal neun Jahre alt. Ein kleines Mädchen. Und jetzt bin ich selber schon seit 20 Jahren verstorben.“ Sie nippt an ihrem Tee. Er ist noch zu heiss. „Ich habe Ihnen die Dokumente mitgebracht, von denen Ihnen meine Tochter erzählt hat.“ Frau O. hebt ihre schwere Tasche auf ihre Knie. Sie holt zwei braune, prallvolle A3 Couverts hervor. Legt sie auf den Tisch. „Bitte schön.“ Sie schiebt mir die Couverts über den Tisch.
„Darf ich auspacken?“
„Klar, nur zu. Ich bin glücklich, dass ich sie Ihnen endlich überreichen kann. Zu meinen Lebzeiten hat sich niemand dafür interessiert.“
„Wie meinen Sie das?“
Sie betrachtet die Teetasse. Die Couverts zwischen uns. „Wie meine Tochter, bin auch ich eine Sammlerin. Diese Bücher hier hab ich vor der Mulde gerettet. Ich war damals etwa 16 Jahre alt. Das Haus von Domini wurde komplett neu renoviert. Seine Werkstatt geräumt. Masken weggeworfen. Das ging alles sehr schnell. Niemand interessierte sich für seine Arbeit. Schliesslich wurde die Maskenfabrik nach St. Gallen verkauft, man hatte damit nichts mehr zu tun.“
Ich nicke zustimmend. „Weggeworfen ist schnell.“
„Sie sagen es. Ich wurde belächelt, als ich mir einen Stuhl holte und selbst in die Mulde stieg. Der Lastwagen wartete bereits. Schnell packte ich diese Bücher. Mehr konnte ich nicht halten.“
Wir betrachten den Stapel. „Immerhin. Vielen Dank für Ihren Einsatz. Ich bin Ihnen sehr dankbar.“ Wir schauen uns an. Lächeln.
„Viele Jahre vergingen. Ich wurde älter. Da begann ich, meine Sammlung zu sortieren. Ich wollte mehr über diese Maskenfabrik von Domini erfahren. Aber leider bin ich bei den Archiven nicht auf offene Ohren gestossen. Niemand wollte mir richtig zuhören, geschweige denn bei der Recherche helfen. Vielleicht habe ich zu lange gewartet. Ich war damals bereits 80 Jahre alt. Wer interessiert sich schon für die Geschichten einer Alten? Wahrscheinlich wirkte ich verwirrt. Was natürlich überhaupt nicht der Wahrheit entsprach. Na ja, ich bin umso glücklicher, Ihnen jetzt die Dokumente doch noch persönlich zu überreichen. Nach meinem Ableben zwar. Aber immerhin.“

Wir haben uns bis vor einer Stunde über alles mögliche untehalten. In den kommenden Tagen erzähle ich weiter. Für heute habe ich genug geschrieben. Tut gut, meine Geschichte zu teilen.

*Der vollständige Name ist der Drückerin bekannt.
**Beitragsbild: Maskenfabrikant Dominik Kälin (1841 – 1909), Sammlung Chärnehus, Einsiedeln